Nicht nur seine Hauptfigur, auch sein ganzer Roman und Hesse selbst steckten an diesem Punkt in der Krise, führt er aus. Mehr als anderthalb Jahre dauert es, ehe der Schriftsteller die Arbeit an „Siddharta“ nach einer Unterbrechung wieder aufnahm. Der Held versucht es nach dem „Weltverzicht“ mit dem „Weltgenuss“ - und scheitert auch hier. In der Mitte der Dichtung kehrt er zurück an den Fluss, den er bei seiner Suche einst überquerte und dieser wird zum einzigen Lehrer, dessen Lehren er bereit ist anzuerkennen. Der Fluss sei Symbol für Gleichzeitigkeit, die Erkenntnis, dass es keine Zeit gibt und für die Alleinheit des Seins. „Der Fluss ist die Stimme des Lebens.“ Die Schlüsselerkenntnis Siddhartas und des Buches beschreibt Hesse so: „Wissen kann man mitteilen, Weisheit aber nicht.“ Siddharta findet die seine in der Liebe zur Welt und der Erkenntnis der Gleichzeitigkeit von allem in allem.
Die Botschaft des Buches sei universell, so Karl-Josef Kuschel, und gehöre keiner Religion allein. Sie sei lediglich eine Zuneigung zum Christentum, nicht mehr und nicht weniger. Jeder habe einen Weg zum Göttlichen, aber jeder einen anderen.
Im anschließenden Austausch mit Professor Kuschel zieht einer der Zuhörer die Querverbindung zur heutigen Zeit. Wie in den 20er Jahren des vorigen Jahrhunderts lebten auch wir in einer Zeit des Dualismus, in der jeder selbst seine Wahrheit finden müsse. Hesses Werk sei eine „Entfeindungs-Dichtung“, erklärt Kuschel. Alles könne sich wandeln. Der „schreckliche Dualismus“, der durch den Ukrainekrieg entstanden sei, müsse überwunden werden. Dazu sei „Siddharta“ kein Rezept, aber das Buch lege Grundlagen und erinnere daran, dass es unsere Aufgabe ist, diese Gegensätze zu überwinden.