Von Sabine Rother
Aachen Horst Grothe ist nachdenklich. Ja, der 54-jährige Pfarrer wünscht sich in seiner beruflichen Tätigkeit noch einmal eine Herausforderung, etwas Neues. Mit dem Amt als evangelischer Seelsorger für die Untersuchungshäftlinge in der Justizvollzugsanstalt Aachen (JVA) hat er sie gefunden.
Seit Oktober 2021 gehört das „System JVA“ zu seinem Arbeitsalltag, das Klirren der Schlüssel, die Türen, die sich schließen, die konsequenten Regeln für alle, die hier arbeiten oder einsitzen. Ein Kosmos, der sich deutlich von der Arbeit als Gemeindepfarrer unterscheidet. Grothe will diese Welt für sich und diejenigen erkunden, die ihn dort brauchen. Dabei trifft er auf unerwartet hohe Hürden, wie er offen zugibt.
„Ich muss mich noch orientieren, das braucht Zeit. Das Gefängnis ist eine Welt für sich. Menschen leben und arbeiten hier unter besonders schwierigen Bedingungen, die auch eines besonders geregelten Miteinanders bedürfen.“ In seiner Arbeit war ihm stets persönliche Nähe ein wichtiges Anliegen, eine Voraussetzung, dass es gelingt. In der JVA muss er jedoch dem Inhaftierten gegenüber unbedingt Distanz wahren: „Während in der Kirchengemeinde freundschaftliche Verbindungen erwünscht sind, werden sie der JVA zum Sicherheitsproblem.“
In Köln geboren, hat Grothe nach dem Theologiestudium und der Vorbereitungszeit seine erste Pfarrstelle in Rheinland-Pfalz erhalten – auf dem Dorf, gemütlich, im besten Sinne turbulent. „Ich war für alles zuständig, eine schöne Arbeit“, erinnert er sich. Um wieder mehr in der Nähe seiner Eltern zu sein, wechselte der Vater von drei Kindern (heute 14, 18 und 20 Jahre alt) 2010 zur Evangelischen Kirchengemeinde Jülich. Wieder eine klassische Pfarre mit sympathischer Gemeinde, in der man gemeinsam allerhand bewegen konnte.
Fünfköpfiges Team
„Als ich in einer Anzeige las, dass in der JVA jemand gebraucht wurde, hatte ich das Gefühl, ich sollte mich bewerben“, wirft er einen Blick zurück. Damals erinnerte er sich wieder an seine Zeit als Student und Pfarrer zur Anstellung in der JVA Remscheid, wo er bereits in der Gefängnis-Seelsorge aktiv war – und dass ihn das bewegt hat. In Aachen gehört er nun zu einem fünfköpfigen Team aus evangelischen und katholischen Seelsorgerinnen und Seelsorgern.
Die Zuständigkeit für Menschen, die in Untersuchungshaft sitzen, verlangt besondere Sensibilität und Wachsamkeit, denn bei ihnen ist eine Menge ungeklärt, denn bei ihnen gibt es laufende Ermittlungen. „Als Seelsorger stehe ich für Gottes bedingungslose Zuwendung“, betont Grothe, „doch ich darf mich nicht instrumentalisieren lassen. Mein größtes Geschenk an den Inhaftierten ist, dass er bei mir offen reden kann, ohne Angst, dass etwas nach außen dringt.“
Das Miteinander in Gesprächsgruppen oder in Gottesdiensten ist auch in der JVA durch Corona stark beeinträchtigt. „In einem Alltag ohne Angehörige, ohne Natur und auch ohne Internet führt Corona zu besonderen Härten“, sagt Grothe. In seiner Arbeit fragt er auf nach der Relevanz seines eigenen persönlichen Glaubens. „Glaube ist für mich eine Kraftquelle. Gott kann bewirken, dass gelähmtes und blockiertes Leben wieder in Bewegung kommt.“
Wie reagieren die Inhaftierten auf ihn? „Die Bedürfnisse sind unterschiedlich. Nicht immer sind da Reue und Schuldbewusstsein, doch wenn das Bewusstsein über verpasste Chancen und zerbrochene Beziehungen und auch Verlustängste übermächtig werden, sage ich den Betroffenen: „Gott sieht uns und unser Leben liebevoll an, sogar dann noch, wenn wir uns selbst nicht mehr ertragen.“ Eine Aussage, die gleichfalls für ihn persönlich gilt: „Gott hat einen Plan für einen jeden und eine jede von uns!“ Eine gute Basis für das neue Amt.
(AZ/AN vom 31.01.2022)