Kirchengemeinden missachten - so ging es im Sommer durch die Presse - Regeln für die Gewährung von Kirchenasyl. Darf sich eine christliche Gemeinde in einem demokratischen Rechtsstaat auf ein in der Antike wurzelndes Vorrecht „der Kirche" berufen?
Schon vor Entstehung des Christentums gilt die Verfolgung von Menschen, die sich an tabuisierten Orten, bei Gegenständen oder Personen aufhalten, als Frevel und als Begründung göttlicher und weltlicher Strafe. Das Konzil von Serdika leitete 343 aus Barmherzigkeit und Nächstenliebe eine Verpflichtung zum Einsatz für Geflüchtete vor staatlicher Gewalt („Interzession") ab. Bis ins Mittelalter wurden Kirchen als Asylstätten rechtlich anerkannt. Die Aufklärung nahm das Kirchenasyl als Behinderung staatlicher Rechtspflege wahr, bis ins 19. Jahrhundert wurden gesetzliche Vorrechte der Kirchen aufgehoben, in Deutschland ist Kirchenasyl heute gesetzlich nicht geregelt.
Christen gewähren heute Kirchenasyl, wenn sie einen Menschen von Abschiebung und dadurch sein Leben oder seine körperliche oder seelische Unversehrtheit bedroht sehen. Sie mahnen damit im Einzelfall die Beachtung übergeordneter Rechtsnormen an, indem sie die Umsetzung einer behördlichen Entscheidung behindern - eine Form von zivilem Ungehorsam.
Behörden entscheiden auf der Grundlage von Gesetzen, die von Parlamenten erlassen werden. Zu unserer Rechtstradition gehört aber auch die Erfahrung, dass die formal korrekte Anwendung von Gesetzen durch Behörden im Einzelfall Härten verursachen kann, die mit den Gesetzen übergeordneten Rechtsnormen unvereinbar wären. Behörden verstehen vor diesem Hintergrund zivilen Ungehorsam als mögliches Korrektiv in solchen Einzelfällen: Die kirchlichen Räume (und deren Außenbereiche) werden als Schutzräume respektiert, die niemand gegen seinen Willen zu verlassen gezwungen wird.
Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) hat mit den christlichen Kirchen 2015 vereinbart, in jedem Einzelfall zu prüfen, ob die Abschiebung eines Menschen im Kirchenasyl eine nicht hinnehmbare humanitäre Härte darstellen würde - beispielsweise wenn er in ein Gebiet abgeschoben werden soll, in dem nach Berichten von Hilfsorganisationen ein menschenwürdiges Leben nicht gewährleistet werden kann, oder in dem er individueller Verfolgung ausgesetzt wäre. Hier berücksichtigt das BAMF auch Kriterien, die bei der beschleunigten Prüfung der Asylanträge regelmäßig außer Betracht bleiben.
Kirchenasyl heute basiert nicht auf „kirchlichem Sonderrecht", sondern auf behördlicher Praxis, die Menschenrechte über die Umsetzung behördlicher Entscheidungen stellt - und auf der Erfahrung, dass Christen diesen Vorrang mit Augenmaß geltend machen.
In jüngerer Zeit liegt der Schwerpunkt der Kirchenasyle auf Fällen, in denen eine Rückführung in einen EU-Staat verhindert werden soll: Nach der „Dublin-Verordnung" ist für die Prüfung eines Asylantrags derjenige Staat zuständig, in dem erstmalig eine Außengrenze der EU überschritten wurde. Kirchenasyl wird gewährt, wenn dieser Ersteinreisestaat kein sachgerechtes Asylverfahren gewährleistet oder wenn von dort eine weitere Abschiebung droht.
Einen Asylantrag kann das BAMF selbst bearbeiten oder beim Ersteinreisestaat anfragen, ob der Antragsteller dorthin zurückkehren soll. Wird nicht innerhalb von sechs Monaten rückgeführt, ist Deutschland zuständig. Diesen Zeitraum zu überbrücken ist hier das Ziel des Kirchenasyls.
Das BAMF hatte 2015 zugesagt, in Dublinfällen den „Selbsteintritt" zu prüfen, wenn die Kirchengemeinde die Gründe für das Kirchenasyl darlegte. Eine allgemeine Verpflichtung der Kirchen zur Vorlage eines solchen „Dossiers" gab es nie - dies wäre auch offenkundig weder inhaltlich sinnvoll noch (in einer presbyterial-synodalen Struktur) formal durchsetzbar.
Dass tatsächlich nicht in allen Kirchenasylfällen „Dossiers" angefertigt wurden, wurde im Sommer 2018 fälschlich als Missachtung der Vereinbarung durch die Kirchengemeinden dargestellt und genutzt, um eine generelle Verlängerung der Wartefrist auf 18 Monate zu begründen, wenn in Zukunft kein Dossier vorgelegt wird. Die Dublin-Verordnung sieht diese Verlängerung bei „flüchtigen" Personen vor - nicht als Sanktion gegenüber Menschen im Kirchenasyl.
Frank Busse/Martin Obrikat
(aus: Evangelisch in Aachen - Dezember/Januar 2018/19)
Theologische Matinee zum Thema „Kirchenasyl"
am So., 9.12., 11.15 Uhr in der Paul-Gerhardt-Kirche (Schönauer Allee 11, Richterich), Predigt: Pfarrer Frank Ungerathen, Synodalbeauftragter für Flüchtlingsarbeit, Liturgie: Pfarrer Wolfram Witthöft, anschl. kurzer Imbiss, ab ca. 12.45 Uhr: Vortrag „Flucht ist kein Verbrechen, Flucht ist ein Menschenrecht. Das Kirchenasyl als ultima ratio im Flüchtlingsschutz" von Pfarrer Frank Ungerathen, Aussprache, Ende: 14 Uhr.