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"Praktisch gelebte Nächstenliebe ist die beste Sicherheitspolitik"

Superintendent Hans-Peter Bruckhoff ruft nach den Anschlägen von Paris zu Humanität, Solidarität und praktischem Engagement auf

Liebe Leserinnen und Leser,


wie erleben und verarbeiten Sie die aktuellen Ereignisse hier in unserem Land mit den Menschen, die vor Krieg, Terror und Gewalt aus ihren Ländern fliehen und gleichzeitig die Erfahrung der schrecklichen Terroranschläge in Paris? Wie können, ja wie sollen wir verantwortlich und menschlich mit der erfahrenen brutalen Willkür solcher Anschläge, der fast unerträglichen Ratlosigkeit, die sich durch viele Kommentare und Talkshows hindurchzieht und den eigenen Sorgen und Ängsten umgehen? Ich bin fest davon überzeugt, dass wir nur gemeinsam solche Untiefen aushalten und nur gemeinsam einen lebensdienlichen Weg aus dieser krisenhaften Situation heraus finden. Ich erlebe in diesen Monaten unsere Kirchengemeinden als ein Stück starke Gemeinschaft in der ganz konkreten Arbeit mit und für Flüchtlinge, in unseren gemeinsamen Gottesdiensten, in denen Angst und Klage, aber auch Hoffnung und Sehnsucht nach heilem, gelingendem Miteinander ihren Platz finden.


Zu dieser Gemeinschaft in unserem Kirchenkreis lade ich Sie ein. Keiner muss allein fertig werden mit den Fragen, den Aufgaben und den Ängsten. Als Christ finde ich Orientierung bei Jesus Christus, bei seinem Wort und seiner Gegenwart, die er uns versprochen hat.
So lese ich in Matthäus 25, 31-46 den bekannten Satz Jesu:"Was ihr einem dieser geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan". In allen Fragen, aller Unsicherheit und allem eigenen Engagement finde ich es ungemein tröstlich, dass mir  Jesus Christus im Nächsten, der unsere Hilfe braucht, begegnet. Alles, was wir in dieser konkreten Hilfe miteinander teilen und wagen geschieht nicht ohne ihn, ohne seine Gegenwart.


Diese praktisch gelebte Nächstenliebe halte ich persönlich für die überzeugendste Sicherheitspolitik, die wir jetzt brauchen. Konkret und beispielhaft nennt Matthäus 25 die unterschiedlichen Notlagen menschlicher Existenz: hungrig oder durstig sein, fremd, krank oder gefangen sein.
Wie wir uns in solchen Notlagen zueinander verhalten ist entscheidend. Wenn wir uns für Menschen, die zu uns flüchten, einsetzen, dann geschieht dies unter gleichzeitigem dauerhaften Einsatz für diejenigen in unserem Land, die hier auf der Flucht sind vor dem drohenden sozialen Abstieg, vor der Arbeitslosigkeit, vor der gesellschaftlichen Ausgrenzung und der Armut.
Der unerkannte Christus im notleidenden Nächsten verpflichtet und befreit uns zu dankbarem Einsatz und Dienst an allen Menschen, die unseren Einsatz und unsere Solidarität brauchen unabhängig von Hautfarbe Religion und nationaler Herkunft.

Kein Ausspielen unterschiedlicher Notlagen

Eine Konkurrenz der Opfer oder ein Ausspielen der unterschiedlichen Notlagen ist abzulehnen.
Mit Sorge nehme ich die Eskalation der Stimmungen durch rechtsradikale Gruppierungen wahr, das Schüren von Ängsten und Vorurteilen und die streckenweise parteipolitischen Eintrübungen der Debatte darum, wie wir gemeinsam diese große Aufgabe bewerkstelligen können.
Unsere Kreissynode, die am 6./7. November getagt hat, dankt den vielen Haupt- und Ehrenamtlichen, die mit Herz, Hand und Verstand einen beeindruckenden Einsatz für die Menschen auf der Flucht, die zu uns kommen, leisten und stellt fest:
Wir dürfen uns jetzt nicht im Stich lassen. Die Zivilgesellschaft braucht die klare politische und staatliche  Begleitung und Strukturierung, das Engagement der vielen Ehramtlichen in Initiativen und Netzwerken braucht die professionelle Erfahrung und Hilfestellung und in den Stadtteilen und Gemeinden, in den Turnhallen und Übernachtungsquartieren brauchen wir immer noch mehr helfende Hände.

Und die Flüchtlinge, was brauchen sie jetzt von uns? Die Menschen, die auf der Flucht vor Krieg und Terror, Hunger, Bedrohung und Tod zu uns kommen, sie brauchen unsere Gesichter, unsere Hände und Füße, unseren Verstand und unser Mitempfinden. Gesichter, die hinschauen und einander als Mitmenschen erkennen und erst dann als Fremdling oder Einheimischer, als Christ oder Muslim ...

Gemeinsam stehen Menschen aus Kirchengemeinden, Vereinen, Privatinitiativen und Stadtteilen zusammen und empfangen die Geflüchteten. Die Kreissynode ist bewegt und dankbar dafür, mit wieviel Improvisation und einem zu Herzen gehenden Einsatz das vor Ort geschieht, manchmal  bis zur Erschöpfung des Einzelnen.  

In den vergangenen Wochen hat sich etwas verändert und ist etwas Neues entstanden. Wir reden nicht mehr nur grundsätzlich über Willkommenskultur, immer mehr Menschen packen mit an und organisieren den nächsten Tag. Was wir dringend brauchen, ist eine verlässliche Struktur und Organisation der nächsten Schritte, eine gezielte und vertiefte Begleitung dieses beeindruckenden Netzes von ehrenamtlichem Engagement. So viele Dinge und Fragen sind nach wie vor zeitgleich in Angriff zu nehmen.  Die täglichen Dinge zum Leben müssen organisiert und verteilt werden, rechtliche Beratung, sprachliche Integration, soziale Vermittlung in Nachbarschaft, Beruf und Ausbildung, menschliche Begleitung und Trost.

Mit Zuversicht zusammenarbeiten und improvisieren

Indem wir uns auf diesen Weg gemacht haben zum fremden Nächsten, können wir die beglückende Erfahrung machen: Wir lernen im gemeinsamen Tun auch unsere Nachbarn in der eigenen Stadt neu und anders kennen. Es spielt keine Rolle, zu welcher Institution die Einzelnen gehören, wo wir gemeinsam für Menschen eintreten, die uns jetzt brauchen.  Da brechen Charismen, Geistesgaben unter uns auf: die Bereitschaft, zusammen zu arbeiten, der Mut zu improvisieren, die Kreativität der Ideen, die Kraft, sich auch auf die Not und das Elend, das Menschen auf der Flucht erlitten haben, einzulassen und immer wieder die Zuversicht, den nächsten Schritt zu wagen ohne den übernächsten Schritt schon zu kennen.

Die erkennbar parteipolitisch gefärbte Eintrübung der Diskussion über Leistungsgrenzen, Transitzonen und das Errichten von Mauern und Zäunen in den vergangenen Wochen, und eine zu beobachtende Radikalisierung von Stimmungen führen insgesamt zu einer Eskalation, droht uns den Blick zu vernebeln für die in der Tat großen Veränderungen und Herausforderungen der Situation, zugleich aber auch für die Fähigkeiten und Lösungsansätze, die eine große Mehrheit in unserer Gesellschaft entwickelt.

Menschliches Antlitz Europas leben und schützen

Als Kirche in der Nachfolge Jesu Christi richten wir daher eine zentrale Forderung an die Politik, an unsere Gesellschaft und an uns selbst:
Es gilt diesen kollektiven Moment der Humanität, der Herz, Hand und Verstand  in Bewegung setzt und jedes Denken in politischen oder religiösen Lagern überholt, festzuhalten.
Wir alle sind herausgerufen, diesen "kairos", diesen gefüllten Zeitpunkt jetzt verantwortlich zu begleiten mit staatlicher, gesellschaftlich koordinierter Unterstützung und professioneller Hilfestellung.
Wir brauchen in Deutschland und in Europa ein  gerechtes und solidarisches Miteinander in dieser Aufgabe: gerade  in Aachen mit dem Karlspreis betonen wir regelmäßig diese Aufgabe: das menschliche Antlitz Europas zu leben, zu schützen und zu entwickeln und das in einer Welt, die immer mehr zusammenwächst.


Als Christen bekennen wir: Ja, wir schaffen das, denn "Gott hat uns nicht gegeben den Geist der Furcht, sondern der Kraft, der Liebe und der Besonnenheit." (2. Timotheus 1, 7)


Hans-Peter Bruckhoff
Superintendent

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